„social distancing“ vs. „physical distancing“

Gerne wird behauptet, dass die gegenwärtig grassierende Kontakt-Phobie keineswegs „social distancing“ wäre, sondern lediglich „physical distancing“.

Die Diskussion ist absurd, und wir lügen uns dabei unser Verhalten schön. Selbstverständlich ist es soziale Distanzierung, wenn ich zu anderen Abstand halte, ihnen nicht mehr die Hand gebe, mich hinter einer Maske verstecke. Es ist sogar noch mehr als das: es ist menschliche Distanzierung. Wenn ich Nähe nicht mehr zulasse, wenn ich andere nicht mehr berühre, mich nicht berühren lasse, wenn ich sie nicht mehr umarme, in die Arme nehme, wenn sie es brauchen, nicht drücke, nicht küsse, was geschieht da mit mir?

Es ist menschliche Distanzierung, wenn wir all die, die uns begegnen, nicht mehr als Mensch wahrnehmen, sondern als potentielle Virenüberträger. Wenn wir nicht mehr das Schöne sehen oder von mir aus auch das Hässliche, sondern jeder zu einer Art Monster wird, das Viren aushustet, ausniest, ausschwitzt, ausatmet. Wenn wir uns nach jedem möglichen auch nur indirekten Kontakt als erstes die Hände desinfizieren. Wenn mein Gegenüber zur ständigen Gefahr für mich wird, zum Krankheitsverbreiter, vor dem ich mich schützen muss.

Es ist eine (un)menschliche Distanzierung, wenn meine 85-jährige Mutter alleine in ihrer Wohnung bleiben soll, möglichst ohne direkten Kontakt zur Umwelt, jedenfalls ohne jeglichen Körperkontakt, und das mit der Aussicht, dass das auch in den nächsten 6, 12 oder 24 Monaten so bleiben wird. Brauchen alte Menschen keine Berührung mehr? Bleibt man so gesund?

Es ist unmenschlich, wenn unsere Kinder in Isolation halten, ohne Freunde, ohne Spielplatz, ohne Schule, dafür mit der ständigen Angst vor Infektion. Was macht das mit ihnen, wenn wir ihnen all das über Monate zumuten, wenn wir sie lehren, Distanz zu halten zu Menschen, die sie lieben, und ihnen beibringen, dass ihre spontanen Reaktionen von Zuneigung gefährlich, ja tödlich sind, und sie diese deshalb unterdrücken müssen?

Es ist unmenschlich, wenn wir andere isoliert und alleine sterben lassen, weil sie uns möglicherweise anstecken könnten; wenn wir selbst in diesem letzten Moment das verweigern, was uns erst zu Menschen macht: Berührung, Nähe, Geborgenheit.

So schützen wir uns vielleicht vor Covid-19, aber überleben wir das auch als Menschen?


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