Wenn einer von „juristischen Spitzfindigkeiten“ spricht…

Man sollte meinen, dass wir uns in der westlichen Gesellschaft auf eine klare Wertehierarchie geeinigt hätten, die allgemein gilt und ganz besonders für diejenigen wenigen, welche im Staat mit der Vertretung der anderen und somit mit großer Verantwortung betraut sind, also für Politiker.

An oberster Stelle, möchte man meinen, stehen dabei Werte wie das Leben selbst, Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Gesundheit, also all das, was in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 sowie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 festgehalten und geregelt ist.

An zweiter Stelle kommt demnach die Verfassung des jeweiligen Staates, die die Grundrechte, aber auch Kompetenzen und Machtverhältnisse regelt, und nicht einfach ausgehebelt werden darf.

Ganz bewusst möchte ich hier als nächste Werteebene Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit einziehen, denn so selbstverständlich es sein sollte, dass der Mensch – zumal als vernunftbegabtes Wesen – im Einklang mit der Umwelt lebt und nicht die eigenen Lebensgrundlagen vernichtet, so weit sind wir derzeit davon entfernt. Wenn wir nicht bald lernen, diese Werte zu achten, erübrigt sich alles andere sowieso.

Sodann folgt die Ebene der Gesetze, die das Zusammenleben in einem Staat regeln, und die naturgemäß den Vorgaben der ersten beiden Ebenen zu entsprechen haben.

Frühestens dann kommen Dinge wie persönlicher Erfolg, Bereicherung, Selbstdarstellung, aber auch Wirtschaftswachstum.

Nun kann es in Krisenzeiten, wenn rasch Entscheidungen getroffen werden müssen, naturgemäß dazu kommen, dass gelegentlich eine davon nicht 100-prozentig in Einklang mit den Grund- und Menschenrechten oder mit der Verfassung steht. Es kann sogar sein, dass man Grundrechte gegeneinander abwägen muss, etwa Gesundheit versus Bewegungsfreiheit, und dann einzelne Rechte beschränkt werden müssen. „Wurscht“ ist das aber jedenfalls nie, auch keine „juristische Spitzfindigkeit“. Und dass alle Maßnahmen, die unsere Grundrechte einschränken, immer mit konkretem Ablaufdatum streng zeitlich begrenzt bleiben müssen, sollte eine Selbstverständlichkeit sein.

Bedenklich ist es außerdem, wenn einzelne Werte, wie „Gesundheit“ oder „Sicherheit“ zur Moralkeule erhoben und als Totschlagargument eingesetzt werden. So erstickt man jede Diskussion im Keim, und wer dann noch etwas zu kritisieren hat, wird schnell zum „Gefährder“ oder gar zum „Mörder“.

Alles, was unsere Grundrechte betrifft, muss deshalb immer mit äußerster Vorsicht, Sorgfalt, Zurückhaltung und v.a. Respekt behandelt werden. Nicht umsonst werden Parlamentarier und Regierungen auf die Verfassung angelobt und sind ihr somit verpflichtet.

Regierungen, Regierende gerieren sich ja gerne als „Macher“, als diejenigen, die etwas tun, die wissen, was zu tun ist, die uns Entscheidungen abnehmen, denen wir vertrauen können, denen wir vertrauensvoll, brav und willig folgen sollen. Und uns gefällt und imponiert das gerade in Krisenzeiten, wir wollen beschützt und geführt werden, wie Kinder von ihren Eltern. Das spricht freilich nicht für unsere demokratische Reife, denn eigentlich sollte uns solch eine paternalistische Politik verdächtig sein und uns abstoßen, selbst wenn sie im schicken Slim Fit-Anzug daherkommt.

Wenn also ein Politiker, und sei es ein Bundeskanzler oder Präsident, die nötige Sorgfalt und den Respekt vor den Grund- und Menschenrechten in ihrer Gesamtheit vermissen lässt, und auch nur den Anschein von Nonchalance erweckt, müssen alle Alarmglocken schrillen. Wer Krisen für eitle Selbstdarstellung zu nützen versucht, beweist weder Kompetenz noch „Leadership“, sondern lediglich gefährliche Persönlichkeitsdefizite. So jemand verdient unser ganzes Misstrauen. Diese Rechte sind kein Spielzeug, sie sind das Fundament unserer Gesellschaft. Und sie waren uns nicht immer gewährt, sondern wurden von Generationen unserer Vorfahren zum Teil blutig erkämpft, das dürfen wir nicht vergessen. Unsere Verpflichtung ist es, diese Rechte niemals für selbstverständlich zu nehmen und um jeden Preis zu verteidigen. Sonst werden wir zwar bald wieder arbeiten und shoppen dürfen „wie früher“, die „neue Normalität“ aber mit ihren Einschränkungen der persönlichen und demokratischen Recht und der permanenten Überwachung wird bleiben.


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