Die Krise als Chance, davon ist in den letzten Tagen und Wochen immer wieder die Rede. Nun, Fakt ist: Wir haben eine Gesundheitskrise mit gewaltigen Auswirkungen auf unser Zusammenleben und unsere sozialen Kontakte, begleitet und gefolgt von einer Wirtschaftskrise, deren Ausmaße wir noch nicht einmal erahnen können, die aber jetzt schon Existenzen bedroht und vernichtet. Wo ist da also die Chance?
Bislang haben wir aus dieser Krise v.a. gelernt, dass jede/r andere ein potenzieller Virenausscheider ist, den ich mir vom Leib halten muss. Wir haben Verhaltensweisen gelernt, die wahrscheinlich essentiell für unser physisches Überleben sind, für die psychische Gesundheit aber eine Katastrophe. Auch darin sehe ich keine großartige Chance.
Freilich könnten wir aus dieser Krise auch durchaus Sinnvolles lernen. Wir könnten beispielsweise lernen, dass wir auch mit weit weniger Straßen- und Flugverkehr auskommen als bisher, und dass dadurch die Lebensqualität beileibe nicht sinkt. Oder dass unsere Städte und Länder ohne Massentourismus lebenswertere Orte sein könnten, wenn sie sich diesem nicht längst schon alternativlos auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hätten. So befinden sich viele Orte in der paradoxen Situation, dass sie zugrundegehen könnten, weil die Heuschrecken, die sie auffressen, ausbleiben: Pest oder Cholera. Covid-19 oder Touristenmassen.
Wir könnten auch lernen, dass der Himmel viel blauer sein kann und die Luft klarer. Wir könnten lernen, wie sauber das Meer sein kann, und dass Vögel singen können, wenn man sie lässt und wenn sie nicht in Abgasen und Lärm ersticken.
Wir könnten lernen, dass Muße nichts ist, was wir fürchten müssen, und dass Stille und Zeit zum Nachdenken sehr wertvoll und produktiv sein können.
Wir könnten lernen, dass all das, was wir jetzt so schön abstrakt unsere „Sozialkontakte“ zu nennen gelernt haben, für uns unheimlich wichtig ist, und dass der reale Kontakt mit anderen Menschen doch eine fundamental andere Qualität hat als der virtuelle. Wir könnten daraus lernen, unsere Mitmenschen, unsere Angehörigen, Kollegen und Freunde, die wir jetzt so vermissen (sogar die, die wir hassen), auch sonst mehr zu schätzen und die Kontakte, denen wir virtuell nachweinen, auch real zu suchen, weil wir sie einfach brauchen.
Wir könnten lernen, dass auch in Kunst, Kultur und Musik „live“ ein völlig anderes Erleben bedeutet als die Konserve. Theater oder Musik ohne die Interaktion zwischen Interpret und Publikum bleibt öde und schal. Selbst ein bloß durchschnittliches „richtiges“ Konzert ist immer noch ein hundertmal intensiveres Erlebnis als die beste CD.
Wir könnten schließlich auch lernen, dass es möglich ist, dass die Menschheit von heute auf morgen ihre Verhaltensweisen komplett ändert, wenn es denn sein muss. Und das wird auch nötig sein, wenn wir den Klimawandel noch irgendwie in den Griff kriegen wollen. Wir könnten lernen, dass wir die Verbote, Einschränkungen und Zwangsmaßnahmen, die wir so fürchten und verteufeln, wenn’s ums Klima geht, nun geradezu dankbar hingenommen haben, als unsere Gesundheit bedroht war. Wir haben nur noch nicht gecheckt, dass der Klimawandel unsere Gesundheit und unsere ganze Existenz noch weit fundamentaler bedroht als irgendein Virus.
Das (und noch einiges mehr) könnten wir aus der Krise lernen.
Stattdessen sehen wir, dass Menschen sich wie die Lemminge vor Baumärkten anstellen, sobald diese wieder geöffnet haben, und sich kilometerlange Kolonnen vor Pseudo-Food-Drive-ins bilden. Wir sehen, dass Autofahren plötzlich wieder cool wird, weil ja die Infektionsgefahr so viel geringer ist als in den Öffis, und außerdem ist der Sprit so leiwand billig.
Wir sehen auch, dass Kultur weit weniger essentiell ist als wir dachten, überhaupt wenn sie keine Touristen anlockt. Wir sehen, dass viele ganz gut ohne Kultur auskommen, dass sie ihnen gar nicht abgeht, wenigstens längst nicht so stark wie Gummipommes & Plastikburger, und das wenige, was noch an Kultur konsumiert wird, steht ja ohnehin gratis im Internet zur Verfügung. Wir sehen, was alles an Berufen und Berufungen offenbar nicht systemrelevant ist, und deshalb in der Wahrnehmung und bei den Hilfsprogrammen unter den Tisch fällt, während wir andere Berufe, die wir neuerdings zu unser aller Überraschung als systemrelevant erkannt haben, eifrig beklatschen, aber weiterhin schlecht bezahlen. Und wir sehen, dass eine vernünftige, sachliche Bewertung der Lage immer schwieriger wird, weil sich die öffentliche Diskussion zunehmend auf die irrationalen Standpunkte „Panik“ und „Ignoranz“ reduziert.
So what? Lernen wir? Sind wir lernfähig?
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