Herr Nehammer greift durch

Jetzt hat er es uns aber gezeigt! Karl „Jaws“ Nehammer hat das Recht souverän gegen ein paar Kinder durchgesetzt. Denn: „Aus meiner Sicht trage ich als Innenminister die politische Verantwortung für die Sicherheit in diesem Land. Meine Aufgabe ist es, alles dafür zu tun, dass sie wieder hergestellt wird.“ So sprach Herr Nehammer im November nach dem Terroranschlag in Wien, den sein Sicherheitsapparat leider trotz zahlreicher eindeutiger Hinweise nicht verhindert hat. Jetzt aber, fast drei Monate später, hat Herr Nehammer nun endlich bewiesen, dass er für Sicherheit in diesem Land sorgen kann. Und er stellt sich damit ganz in die Tradition etlicher seiner Amtsvorgänger, die gleichfalls ihre Autorität mit Vorliebe gegenüber den Schwächsten zur Schau stellten.

Zugegeben: Kinder abschieben ist anscheinend das einzige, was das Innenministerium derzeit auf die Reihe kriegt. Wer’s nicht schafft, absehbare Terroranschläge zu verhindern, sich dafür mit Großbetrügern verhabert und bei Demos von Neonazis und Covidioten diverser Couleurs tatenlos zuschaut, muss wohl auf diese Art „Stärke“ zeigen. Jeder, wie er kann. Zum Glück gibt’s genügend Kinder von Moria bis Wien, da können sich die Herrn Kurz & Nehammer nach Herzenslust austoben.

Immerhin – wir sind ja bemüht, auch die positiven Seiten zu sehen – zeigt sich ein gewisser Wille zum sozialen Ausgleich: Nicht nur Millionenbetrüger mit dubioser Biografie erhalten freundliche Unterstützung bei ihren Reiseplänen, auch ganz normalen Kinder, die seit ihrer Geburt in Österreich leben und hier in die Schule gehen, kommen in den Genuss einer Flugreise in ihre angeblichen Heimatländer. Dass sie diese „Heimat“ oft gar nicht kennen, tut nichts zur Sache. Dort in die Schule zu gehen, obwohl sie die Sprache nicht können, ist eine wertvolle Erfahrung, die ihren Horizont sicherlich fürs ganze Leben gewaltig erweitern wird.

Jetzt mag so viel demonstrative Herzlosigkeit gegenüber Kindern manche vor den Kopf stoßen, denn – nur zur Erinnerung – Herr Nehammer gehört einer Partei an, die sich „christlich-sozial“ nennt und behauptet, christliche Werte – das wären beispielsweise Nächstenliebe und Barmherzigkeit – zu vertreten. Herr Nehammer und seine Partei behaupten auch, dass diese Werte gegenüber Zuwanderern aus aller Welt verteidigt werden müssten. Dass man diese Werte verteidigt, indem man sie mit Füßen tritt, mag den unbedarften Beobachter möglicherweise irritieren; die begnadeten Philosophen, derer sich ja einige – mit oder ohne teure Diplomarbeit oder Dissertation – in der neuen ÖVP tummeln, werden dieses scheinbare Paradoxon aber sicherlich noch schlüssig erklären. Den Begriff „Verantwortungsethik“ als Rechtfertigung für moralische Schweinerein haben sie ja schon zuvor für ihre restriktive Flüchtlingspolitik der letzten Jahre aus dem moralischen Keller herauf geholt, der wird ihnen auch in diesem Fall dienlich sein.

Es ist ja immer wieder erstaunlich, wie vornehmlich von konservativen bzw. neokonservativen Kreisen die eigenen Unmenschlichkeiten gerne mit Vernunft und Recht begründet werden, während man Andersdenkenden „Emotionalität“ vorwirft. Frau Salomon, die treue Dienerin ihres Herrn, hat es im „Kurier“ erst jüngst wieder mit diesem Rechtfertigungsspagat versucht.

Dabei ist es doch genau umgekehrt: Es gibt schier endlos viele und überaus vernünftige Argumente, weshalb man beispielsweise Menschen, die sich hier bestens integriert haben, die Schule besuchen, eine Lehre machen oder arbeiten, die erfolgreich und anerkannt sind, sich in die Gesellschaft einbringen, dankbar für die Chancen, die sie hier vorfinden, weshalb man solche Menschen eben NICHT abschieben, NICHT aus dem Land werfen, NICHT verjagen soll. Es ist einfach unvernünftig, unlogisch, unsinnig und nicht zuletzt – das sollten doch selbst die Neokons verstehen – komplett unökonomisch.

Wenn sich jemand aber derart irrational verhält und so widersinnige Entscheidungen trifft, dann muss er wohl selbst von starken Emotionen getrieben sein: Angst, Abneigung, Neid, Hass. Dieses Emotionschaos versteckt sich lediglich feig hinter angeblichen Sachzwängen, redet sich aufs Recht aus, und verdrängt dabei den Ermessensspielraum, den das Recht immer lässt. Völlig ungesunde, irrationale, triebgesteuerte Emotionalität ist das also, fern jeder Vernunft; Emotionalität, wie man sie den „Gutmenschen“ immer vorhält, nur eben absolut negativ und zerstörerisch.

Für alle integrationswilligen Zuwanderer ist das Signal freilich fatal, aber das ist vermutlich auch beabsichtigt. Einerseits von diesen Menschen Integrationswillen einzufordern, und dann genau jene abzuschieben, die eben diesen Willen bewiesen und sich hier bestens integriert haben, kann doch nur eines sagen: Egal, wie sehr du dich auch bemühst, wenn wir nicht wollen, schleichst du dich wieder heim!

Das Kalkül hinter der ganzen Inszenierung ist naturgemäß – wie immer unter dem aktuellen Kanzler – banal und primitiv: Ablenkung. Ablenkung vom eigenen Versagen in der Bewältigung der Corona-Pandemie, vom Chaos bei den Impfungen, von der drohenden Vernichtung der Kulturbranche, von der „Kaufhaus Österreich“-Peinlichkeit, von der Aschbacherischen Plagiats-Dissertation, vom Ibiza-Ausschuss und ganz im speziellen von der endlosen Liste an Debakeln im Verantwortungsbereich des Innenministeriums von BVT bis Wirecard. Und so geht das Abschieben munter weiter. Kleine Kinder werden medienwirksam mitten in der Nacht mit Spezialeinheiten zum Flughafen eskortiert, während angehende Terroristen auf wohlwollende Beobachtung beim Waffenkauf vertrauen dürfen.

Die Grünen als der kleine, sehr viel naivere Koalitionspartner schauen leider bei diesem zynischen Spiel ziemlich dumm aus der Wäsche. Immerhin haben sie ja im Gegensatz zum reinen Machtkalkül der ÖVP so etwas wie einen moralischen Anspruch, wedeln mit dem Fähnchen ihrer moralischen Überlegenheit auch gerne demonstrativ anderen vor der Nase herum. Das geht für eine Partei im Paradies der unbefleckten Opposition ja ganz gut. Wenn man sich allerdings mit Leuten wie der Kurz-Partie, für die „Moral“ bestenfalls ein buntes Kostüm für den sonntäglichen Kirchgang ist, auf eine Regierungskoalition einlässt, dann sitzt man zwangsläufig bald zwischen allen Stühlen. Herr Kogler bedauert also diese ganze Angelegenheit, tut ansonsten nichts und spuckt im Nachhinein große Worte.

Freilich hätte auch das grüne, aktuell von Herrn Kogler höchstselbst geleitete Justizressort in der Sache der bekannt miserablen Asyl- und Fremdengesetze, insbesondere der aus türkis-blauen Regierungszeiten stammenden Teile, längst aktiv werden können. Davon sprechen allerdings weder Herr Kogler noch die Grüne Klubchefin, Frau Sigrid Maurer, die es lieber ihrem Chef gleichtut und im Interview recht überzeugend die Empörte spielt. Fast könnte man ihr dieses Engagement abnehmen, folgten auf die Worte auch Taten. Leider ist alles, was folgt, die Einsetzung einer Kommission für das Kindeswohl durch den Herrn Vizekanzler, als ob nicht ohnehin klar wäre, was das Problem ist. Derlei kommt halt heraus, wenn sich Machtlosigkeit mit Sesselkleberei paart. Chapeau! Da setzt sich der gute Minister Kogler für die Kinder jetzt, wo sie weg sind, fast so entschlossen, tatkräftig und effektiv ein wie für seine Ressorts Kultur und Sport! Da möchte man den grünen Moralaposteln eigentlich am liebsten jenes legendäre Selfie von Frau Maurer mit Sektflöte und Stinkefinger reposten.

Aber natürlich ist auch das alles Teil der Inszenierung und dient wiederum der Ablenkung. Während sich das Publikum an den Verrenkungen der Grünen delektiert, vergisst es einmal mehr, was diese Regierung alles verbockt hat. Doch wir sollten die Türkisen, namentlich die Herren Kurz und Nehammer als die eigentlich Verantwortlichen in dieser Sache keinesfalls aus der Pflicht entlassen. Noch dazu, wo in diesem speziellen Fall laut dem Verfassungsrechtler Heinz Mayer im Verfahren grobe Fehler passiert sein dürften. Es scheint also, als hätte Herr Nehammer gar nicht so sehr „das Recht“ durchgesetzt, sondern vielmehr die Willkür. Dass andere nun die Malaise für sie ausbaden, wäre genau der Spin, den die Türkisen der Angelegenheit zu geben versuchen.

Allerdings bedarf es vermutlich ohnehin keines zusätzlichen Spins, denn nach grade mal einer Woche hat sich die Empörung bereits merklich gelegt. Mitschüler der Abgeschobenen demonstrieren zwar noch, aber das Medienecho wird immer bescheidener. Auch dieser Aufreger ist langweilig geworden. Auf die Kurzatmigkeit und Vergesslichkeit unserer Gesellschaft, die von einer Erregung zur nächsten hechelt, ohne jemals irgendwelche Konsequenzen einzufordern, ist eben Verlass. So folgt Inszenierung auf Inszenierung, Spektakel auf Spektakel, was nach Bewegung aussieht, ist in Wahrheit Stillstand, denn bevor sich etwas bewegen könnte, wird der sensationsgeilen Öffentlichkeit verlässlich der nächste Knochen zum Spielen hingeworfen.

Und was ist jetzt mit den Kindern?

Welche Kinder?


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