Neulich im Niederösterreichischen Freibad

Jahrelang war sie wie ein Mythos und oft unter dem Alias des „gesunden Volksempfindens“ durch die Reden von rechtspopulistischen Politikern und Neonazis gegeistert, einen Beleg für ihre reale Existenz gab es jedoch nie. Nun aber dürfte die normal denkende Mitte erstmals leibhaftig in einem niederösterreichischen Freibad gesichtet worden sein.

Laut Augenzeugen soll es sich bei der normal denkenden Mitte um einen gewaltigen, vermutlich männlichen, jedenfalls ungegenderten Bierbauch von mehr als 2 Metern Umfang handeln. Ein Kopf war an ihr nicht erkennbar. Neugierige, aber durchwegs höfliche Versuche der Kontaktaufnahme ignorierte die normal denkende Mitte, Fragen nach ihrem Befinden ließ sie unbeantwortet. Stumm sprang sie mit einem heftigen Bauchfleck ins Wasser und drängte die anderen Badegäste an die extremen Ränder des Bassins. Durch ihr deutliches Übergewicht war sie klar als schweigende Mehrheit erkennbar.

Am Ende des Badetages verschwand sie ebenso geheimnisvoll, wie sie aufgetaucht war. Ein weiterer Zeuge will gesehen haben, wie die normal denkende Mitte gegen 18 Uhr mit den leise gemurmelten Worten „Keiner hört auf mich. Ich beschäftige mich jetzt mit den wichtigen Themen!“ in den Keller eines Einfamilienhauses stieg. Allerdings war der Zeuge der Tageszeit entsprechend bereits deutlich alkoholisiert und ist somit nur bedingt zuverlässig.

Kurz nach Bekanntwerden das Vorfalls schrieb die Bademeisterin des Freibads, die sich in ihrer Position zuletzt nicht gebührend gewürdigt sah und deshalb immer wieder klagende Leserinnenbriefe verfasste, in einem ebensolchen, dass sie die normal denkende Mitte schon die längste Zeit im Freibad empfangen habe. Sie pflege mit ihr einen intensiven und herzlichen Umgang, man habe sich mit viel Hausverstand und intellektuell auf Augenhöhe über die wirklich wichtigen Probleme ausgetauscht. Sie kenne daher die Ansichten und Anliegen der normal denkenden Mitte und nehme sie als mütterlich sorgende Bademeisterin, also als einzige, ernst. Hausverstand sei überhaupt der gemeinsame Nenner, die Kante sozusagen, über die man im Kampf gegen extremistische Sternschnuppen von vorn und hinten, welche die Badegäste spalten wollen, springe.

Dem widersprach ihr Stellvertreter, ein junger Mann mit Migrationshintergrund, aufs Schärfste. Die Bademeisterin mache der normal denkenden Mitte lediglich schöne Augen, in Wahrheit schätze sie diese gering und tue alles, um ihr den Aufenthalt im Freibad unerträglich zu machen, indem sie dort allerlei dürres Gesindel einlasse. Die normal denkende Mitte fühle sich nicht mehr daheim im Freibad, quasi fremd im eigenen Becken. Er hingegen habe mit ihr viele schöne Stunden bei gemeinsamen Liederabenden verbracht und ihr dabei, die Nase stets am Anus des Volkes, aufs imaginäre Maul geschaut. Er könne mit Gewissheit sagen, dass die normal denkende Mitte von der Lerserinbriefschreiberin zutiefst enttäuscht sei und sie niemals zur Bademeisterin gewählt hätte. Vielmehr wünsche sie sich einen echten berittenen Volksbademeister wie in der guten alten Zeit.

Über den erstaunlichen Disput der Bademeisterin mit ihrem Stellvertreter, wer nun die normal denkende Mitte inniger liebe, trat das Interesse an dieser selbst wieder in den Hintergrund. Man beobachtete verwundert, wie die scheinbaren Kontrahenten mit den selben Worten Gegenteiliges zu sagen vorgaben, während das Objekt des Begehrens weiterhin unauffindbar blieb.


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